"Das war ein echter Glücksfall"
Urte Stahl aus Friesenheim wurde 2019 zufällig für den Bürgerrat Demokratie ausgelost. Seit ihrer Teilnahme daran engagiert sie sich zusammen mit anderen ehemaligen Bürgerrat-Mitgliedern für mehr Losdemokratie in Deutschland. Jetzt unterstützt sie die Kampagne "Mittendrin mit Bürgerräten". Wir haben ihr dazu einige Fragen gestellt.
Frage: Frau Stahl, Sie haben 2019 am bundesweiten Bürgerrat Demokratie teilgenommen. Wie kam es dazu und was waren Ihre Eindrücke?
Urte Stahl: Das war ein echter Glücksfall. Ich war eine von ca. 100 Personen, die zufällig aus dem Einwohnermelderegister meiner Gemeinde ausgewählt wurden und angeschrieben wurden. Insgesamt wurden bundesweit über 3000 Menschen angeschrieben. Nach kurzer Überprüfung auf die Seriosität habe ich schnell zugesagt und habe dann glücklicherweise in die demographischen Auswahlkriterien hineingepasst. Das Erlebnis des Bürgerrates hat dann meine Erwartungen noch übertroffen. Es hat mir wieder eine neue Perspektive aufgezeigt, wie sich unser demokratisches System weiterentwickeln kann.
Frage: Warum hat Sie das Bürgerrat-Konzept überzeugt?
Stahl: Es gibt auf Bundesebene leider bislang viel zu wenig Bürgerbeteiligung und Bürgernähe. Und die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik ist leider an vielen Stellen zu spüren. Das Instrument des Bürgerrates überzeugt mich durch die hohe Repräsentativität bei der Zusammensetzung aufgrund des Zufallslosverfahrens. Man erreicht hierdurch Menschen, die sich sonst nicht zu Wort melden und nie gehört werden. Durch die Organisationsform ist es jedem und jeder möglich, sich für begrenzte Zeit zu einem Thema politisch einzubringen und mitzudiskutieren. Besonders wichtig ist auch der moderierte Dialog zwischen allen Beteiligten.
In den täglich neu zusammengelosten Tischgruppen setzt man sich mit der Sichtweise und Lebenswirklichkeit der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer auseinander, mit denen man sonst möglicherweise nie ins Gespräch käme. Das weitet den Horizont sehr und ermöglicht allen, ihre eigenen Meinungen auch einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Das ist eine wichtige Erfahrung, die unserer ganzen Gesellschaft gut tut. Wenn sich die Politik auf die Empfehlung von Bürgerräten einlassen könnte, wäre das ein wichtiger Schritt, um eine Wiederannäherung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Politik von beiden Seiten zu ermöglichen.
Frage: Nach Abschluss des Bürgerrates haben Sie sich mit anderen Teilnehmenden zusammengetan, um Politik und Öffentlichkeit über Bürgerräte zu informieren. Wie sah das aus?
Stahl: Gemeinsam mit weiteren Teilnehmenden aus meinem Heimatort sind wir zunächst an zwei Bundestagsabgeordnete unseres Wahlkreises herangetreten. In diesen Treffen haben ihnen von unseren positiven Erfahrungen berichtet und für die Etablierung von Bürgerräten geworben. Auch unsere lokalen Presse, die schon vor dem Bürgerrat berichtet hatte, haben wir über den Ablauf und die Ergebnisse des Bürgerrates "Demokratie" informiert. Anschließend wollten wir mit auch anderen Parteien ins Gespräch kommen und haben schließlich alle Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg per Email angeschrieben und Treffen angeboten.
Frage: Wie waren die Reaktionen der Politikerinnen und Politiker, mit denen Sie über Bürgerräte gesprochen haben?
Stahl: Die Resonanz war sehr gut. Wir haben per Videokonferenz Gespräche mit jeweils mehreren Abgeordneten der verschiedenen Parteien geführt. In manchen Details gab es noch Skepsis, aber grundsätzlich stieß das Instrument und unsere Erfahrungen auf großes Interesse. Wir hatten das Gefühl, durch unsere Berichte manche Fragen beantworten und fehlerhafte Annahmen ausräumen zu können.
Frage: Mehr Demokratie startet zusammen mit vielen anderen Organisationen eine Kampagne zur Einführung bundesweiter Bürgerräte. Bringen Sie sich dort ein und wenn ja, wie?
Stahl: Selbstverständlich werde ich mich hier wieder mit anderen aus unserer Gruppe der "aktiven Bürgerräte" nach Kräften einbringen. Wir als Teilnehmende von Bürgerräten sind wichtige Multiplikatoren, d.h. wir können unvoreingenommen und authentisch über unsere Eindrücke und den Ablauf des Bürgerrates erzählen. Und auch zeigen, dass es tatsächlich einige Teilnehmende zu weiterem politischem Engagement motiviert.
Aktuell versuchen wir, weitere Bürgerrat-Mitglieder zur Unterstützung zu gewinnen. Wir werden die Abgeordneten und Kandidierende zur Bundestagswahl in unserem jeweiligen Bundesland anschreiben und noch einmal dafür werben, Bürgerräte in der neuen Legislaturperiode als festes und regelmäßiges Format aufzunehmen. Bei Podiumsdiskussionen mit Abgeordneten und Kandidierenden werden wir als Bürgerrat-Mitglieder ebenfalls gerne dabei sein. Zudem werden wir versuchen, Prominente und Influencer für das Thema zu gewinnen.
Frage: Was raten Sie Menschen, die sich ebenfalls für Bürgerräte engagieren wollen?
Stahl: Bitte melden Sie sich bei Mehr Demokratie, dort laufen alle Fäden zusammen. Diese leiten Sie dann möglicherweise an uns weiter und wir melden uns dann bei Ihnen. Und bitte haben Sie keine Scheu oder Sorge: man muss keine bestimmten Kenntnisse oder Fähigkeiten mitbringen und jede und jeder bringt eben soviel ein, wie er oder sie kann. Wir haben erlebt, dass es durchaus etwas in Gang bringen kann, wenn Menschen an verschiedenen Plätzen an den gleichen Strängen ziehen. Da ist jeder Beitrag wertvoll.